St. Gallen, 03.06.2024
Eine Verletzung des Gehirns kann verschiedene Auswirkungen auf Körper und/oder geistige Fähigkeiten und die Persönlichkeit haben. Zu den häufigsten Beeinträchtigungen zählen die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Diese können Wochen, Monate oder sogar Jahre nach einem Ereignis noch spürbar sein, wobei der Schweregrad der Hirnverletzung zum Schweregrad der Aufmerksamkeitsstörung nicht in direktem Verhältnis stehen muss.
Unaufmerksamkeit im Alltag bedeutet, dass der betroffenen Person viele, teilweise auch sehr wichtige Informationen entgehen. Wenn sie mehrere an einer Unterhaltung beteiligen, ist es schwierig, den «roten Faden» zu behalten. Betroffene schweifen ab und es fällt ihnen schwer, sich auf das Wichtige zu konzentrieren und lassen sich leicht ablenken. Termine und Vereinbarungen werden teilweise vergessen. Dies ist meist kein Gedächtnisproblem, sondern die Folge einer Aufmerksamkeits- und Konzentrationsbeeinträchtigung. Die Aufmerksamkeit war bei einer automatischen Handlung, wie z.B. den Schlüssel «irgendwo» abzulegen bereits auf andere Reize gerichtet, weshalb ein Abspeichern dieser Tätigkeit im Gedächtnis gar nicht erst stattgefunden hat. Selbst routinierte Aufgaben dauern oft deutlich länger als noch vor dem Ereignis bzw. wie man es von sich selbst gewohnt ist. Den Betroffenen gelingt es nicht mehr, sich über einen längeren Zeitraum hinweg zu konzentrieren, weshalb die Fehleranfälligkeit im Verlauf einer geistigen oder praktischen Tätigkeit deutlich zunimmt. Es kommt zu einer raschen Ermüdbarkeit und das Schlafbedürfnis ist grösser als zuvor. Selbst durch mehr Stunden Schlaf können diese Defizite nicht ausgeglichen oder kompensiert werden.
Vor allem die längerfristige Fokussierung auf eine bestimmte Aufgabe ist für die meisten ein zentrales Problem. Betroffene sind häufig leicht ablenkbar und haben Mühe die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten. Sie können ihre Aufmerksamkeit nur schwer oder gar nicht auf mehrere Dinge gleichzeitig oder abwechselnd richten. Die Fähigkeit, spontan oder flexibel auf eine neue Situation zu reagieren bzw. sich auf Neues einstellen zu müssen, ist nicht vorhanden. Leistungen, die früher automatisch, vielleicht sogar einfach nebenher, ausgeführt werden konnten, können jetzt durch die reduzierte Aufmerksamkeit nur noch kontrolliert ausgeführt werden. Dies bedeutet auch wieder eine erhöhte Anforderung für die Betroffenen. Eine reduzierte Aufnahmekapazität beschränkt somit auch die Möglichkeit, Defizite zu kompensieren.
Zu den Folgen einer Störung der Aufmerksamkeitsfunktionen gehören Unkonzentriertheit, Verlangsamung, Antriebslosigkeit, rasche Ermüdbarkeit, gesteigertes Schlafbedürfnis, Benommenheit, verringerte Aufnahmefähigkeit, vor allem wenn mehrere Dinge gleichzeitig verlangt werden, höheres Licht und Geräuschempfindlichkeit.
Für das private und berufliche Umfeld sind solche Einschränkungen meist nicht unmittelbar erkennbar. Betroffene stehen aus diesem Grund unter einer zusätzlichen psychischen Belastung, da die Anerkennung für die Beschwerden häufig fehlt. Die Entwicklung einer Depression ist daher nicht ausgeschlossen, was zu einer weiteren Einschränkung der Aufmerksamkeit führen kann.
Im Bestreben, die Defizite zu überwinden, versuchen Betroffene meist, eine verringerte Leistungsfähigkeit durch einen Mehraufwand an Anstrengung zu kompensieren. Aus Scham fällt es den meisten schwer, Grenzen zu setzten. Ein Eingeständnis der eigenen Defizite nagt am Selbstwert. Aus dem ständigen Bemühen, die vom sozialen Umfeld oder auch von sich selbst erwartete Leistung zu bringen, kann sich eine Überbelastungssituation entwickeln, welche sich auch in psychischen bzw. körperlichen Störungen äussern.
Die Rückkehr an den gewohnten Arbeitsplatz ist in einigen Fällen nicht mehr möglich, da die Leistungserwartungen und die Bedingungen für die Betroffenen eine zu grosse Hürde darstellen und sie nicht in der Lage sind, diesen gerecht zu werden. Manche sind sogar auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen, da sie nicht mehr allein leben können. Trotzdem ist es den meisten wichtig, ihren Beitrag zu leisten und auch selbstbestimmt leben zu können.
Einrichtungen wie Viv. hilft Menschen mit einer Hirnverletzung oder einer Behinderung, in dem sie ihnen eine Wohn- und Arbeitsmöglichkeit anbieten, um eine möglichst weitgehende Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. Betroffene können ohne Druck von aussen Tätigkeiten ausführen, welche ihren Fähigkeiten entsprechen. Durch Viv. werden Menschen auch darin unterstütz, wieder allein zu wohnen oder durch einen Job Coach sich im allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren.
Autorin
Dipl.-Psych. Birgit Hohnecker
Fachpsychologin für Neuropsychologie und Psychotherapie und Coach